Phantastereien zur Kirmeszeit

Verschwommen ist auf einer digitalen Anzeigewand eine Jahreszahl zu erkennen, die sich nach genauerem Hinsehen dann doch deutlich herauskristallisiert: Man schreibt das Jahr 2525. „Scherberg, wie haste Dir verändert“, würde der Berliner mit unnachahmlicher Schnodderschnautze sagen, nicht ohne ein unvermeidliches „wa“ als Bestätigung anzufügen,-eine Sprechweise, die dem Rheinländer im Aachener Sprachraum nicht fremd sein dürfte.

Die vormals freien Flächen links und rechts in der Buschgasse (verlängerte Paulinenstraße) zum Sportplatz hin sind vollständig mit gleich häßlich aussehenden, weißen Vierecksbauten bepflastert worden. Durch das Wurmtal soll in Kürze auf modernster Trassenführung eine sechsspurige Bundesautobahn erreicht werden. „Alles kein Problem“, meint der Bundesverkehrsminister, da Verkehrsmittel zu Boden und in der Luft seit einigen Jahren ausschließlich nur noch auf Wasserstoff und Solarstrombasis betrieben würden. „Der Fortschritt läßt sich halt nicht aushalten, „fügt er noch eiligst in einem Statement hinzu und verschwindet wieder dorthin, woher er gekommen ist. Und das, obwohl auch er wissen dürfte, daß z.Zt. nachweislich immer mehr Verkehrsteilnehmer vom PKW auf privateigene Hubschrauber umzeigen; aber was stört den innovativen Planer da schon eine kaputte Optik, sprich Landschaftsverschandelung…

Das Festzelt des Scherberger Jungenspiels mußte wegen genannter Bebauung bereits vor Jahren weichen. Es hat einen neuen Standort in der Ortsmitte gefunden, da, wo alten Überlieferungen zufolge eine Kirche gestanden haben soll und anstelle dessen vor ca. 300 Jahren ein Dorfplatz errichtet wurde. Im 3000 Plätze fassenden, voll klimatisierten Zelt heizt Dj Future (sprich Fjutscher) die Massen ein. Als allabendlicher Höhepunkt tritt an sämtlichen fünf Festabenden Rapper MC Steelhammer vor das begeisterte Publikum (Geil, Alter, Geil) und bringt zu spastischen Armbewegungen seinen Sprechgesang zum besten. Röhrend und ächzend entweicht einem Organ, daß früher für den Gesang zuständig gewesen ist, so etwas wie „Ver send de Jonge van et Spell.“

Das männliche Publikum trägt zu einem begleitenden Naturdeo überwiegend oberkörperfrei seine zahlreichen Tatoos zur Schau, je mehr, je besser; und es hat den praktischen Nebeneffekt, daß „Mann“ Textilien spart. Dazu wird die Jeans etwas heruntergezogen getragen, so daß der Hosenboden, auch „Boxesöller“ genannt, in Höhe der Kniekehle gelangt und somit zweifelsfrei das Design des Beinunterkleids (Unterbox) demonstrativ erkennbar ist. Als Schuhwerk werden Sandaletten bevorzugt, die natürlich ohne Strümpfe getragen werden können, da das Zelt wie erwähnt ja über eine Klimaanlage verfügt.

Auch das längdt nicht mehr schwache Geschlecht hat sich wieder einmal beeindruckend in Schale geschmissen. Zu einem dezenten, leicht transparenten, bauchfreien Oberteil, mit darunter befindlichem chicken und neuartigen String-BH trägt die modebewußte Frau von Welt nicht nur ein sogenanntes „Arschgeweih“, sondern passend zum Partner ebenfalls eine topaktuelle Boxesöllerjeans der Firma Würg & Wrangler. „Wow,“ entfährt es dem reiferen Betrachter, dem jüngeren wieder eher das unverwechselbare „Geil, Alter, Geil.“ –Als Krönung sind Augenlider, Ohrläppchen, Nase und Mund mit zahlreichen, schmucken Eisenteilen zugetackert. Ein dekoratives Zungenpearcing darf da natürlich nicht fehlen. Man versteht die so Gepearcte zwar schlecht, aber das ist aufgrund der schon seit Jahrhunderten zu lauten Musik im Zelt ohnehin kaum möglich.

Selbst die Pritschenkinder (man stelle sich vor: Vor mehreren hundert Jahren durften nur männliche Nachkommen in der Pritsch mitwirken) sind leger gekleidet und verweisen ausnahmslos auf die stets mitgeführten Smartphones und Handys, mit denen sich die Kids auch während der Umzüge gerne einmal beschäftigen dürfen. Deutliche Gebrauchsspuren am kunterbunten Schuhwerk sind ausdrücklich erwünscht und momentan absolut „in“. Dazu gesellen sich weiße Fleckenjeans und Hemden mit abgerissenen Knöpfen. Die Schärpe wird indianergleich um die Stirn gewickelt. So ist sie, die neue Zeit. Strohhüte sind längst out, der Nachwuchs trägt bevorzugt Baseballkappen, verkehrt herum versteht sich, mit der Werbeaufschrifft: „Schrott Schäfer – seit über 500 Jahren.“

Der Schützenkönig trägt schon längst kein lästiges Silber mehr, sondern nur noch Werbeplaketten. Seine Schützenbrüder begleiten ihn im Umzug im lässigen Jogging- oder Trainingsanzug. Der Schützenkönig wird im übrigen nicht mehr in einem Schießwettbewerb, sondern per Pfeilwefen ermittelt.

Im Zelt ist mittlerweile nicht nur das Rauchen verboten, sondern auch das Bierausschenken. Einen Gast hört man seine Bestellung aufgeben: „Einen Meter Kamillentee bitte“. Am Frittenwagen gibt es seit Jahren nur noch Zwieback und Knäckebrot… -Das Szenarium nimmt immer groteskere Züge an,…—-als ich erschrocken und schweißgebadet wach werde…..

Das war ja der blanke Horror, denke ich so für mich, gottlob nur ein Albtraum. In diesem Augenblick höre ich erleichtert die Turmuhr von St. Marien schlagen. Puh, Scherberg, Wurmtal und Jungenspiel sind dch noch nicht verloren –und immer noch das, was sie schon immer waren: Heimat und Brauchtum im altehrwürdiger und liebenswerter Tradition. Wünschen wir noch viele Generationen nach uns, daß sie sich an diesen Werten orientiert und erfreuen dürfen!

Für uns „Eingeborene“ ist es doch immer wieder schön, erleben zu dürfen, daß die Jugendlichen, gerade auch die von außerhalb unseres Ortes, bereit sind, das Scherberger Maibrauchtum Jahr für Jahr für sich zu entdecken, Freundschaften zu pflegen, das Zusammengehörigkeitsgefühl wertzuschätzen und die Tradition aufrechterhalten. Das Miteinander und das gegenseitig füreinander Dasein ist eben nicht so selbstverständlich in einer Zeit, in der ständig Supertalente, Superstars und Topmodels in öffentlichen TV-rankings gesucht werden und das Erreichen dieser Titel als das Erstrebenswerteste auf der Welt propagiert wird.

Mag manch einem unser Brauchtum auch antiquitiert und altmodisch erscheinen, die Jugend entdeckt es für sich und trägt es mit Stolz gereationsübergreifend weiter. Dafür sagen wir herzlichst DANKE, stellvertretend für alle, die sich mit dem Jungenspiel in unserem Ortsteil verbunden fühlen!!!

Das meint einer von den ehemaligen Maikönigen, Maiknechten und Pritschenmeistern des Scherberger Königsspiels.

Scherberg im Juni 2015