Scherberg im Wandel der Zeit

Wollte man die Geschichte Scherbergs von Beginn an in allen Facetten erzählen, so braucht es hierzu eher eines Buches als nur eines kleinen Aufsatzes. Denn immerhin finden Teile Scherbergs wie die Wolfesmolen, die heutige Wolfsfurth, schon lange vor dem Jahr 1200 geschichtliche Erwähnung.

Auch aus dem Mittelalter finden sich Aufzeichnungen, die die Existenz Scherbergs zu dieser frühen Zeit belegen. So ist z.B. in der Aachener Stadtrechnung aus dem Jahre 1385 zu lesen, dass ein „Pauwele von Scherberch 10 dage myt 4 perden pp“ geliefert hat. In unsere Sprache übersetzt heißt das: Ein Scherberger Bürger namens Paul hat als Kriegsleistung 10 Tage mit 4 Pferden gearbeitet.

Erneut Erwähnung findet Scherberg Ausgang des 18. Jahrhunderts, als in Scherberg die französische Verwaltung eingeführt wurde. Im Distrikt Scherberg regierte der von den Franzosen eingesetzte Bürgermeister Philipp Creutz, der im Hause Scherberger Straße 89 wohnte, das Haus, das heute noch im Volksmund als „de Marie“ bezeichnet wird, abgeleitet von dem französischen „Mairie“, was wiederum übersetzt nichts anderes als Bürgermeisterei bedeutet. Aus dieser Zeit existieren noch etliche Einwohnermeldeamtslisten in französischer Sprache, aus den man erlesen kann, wer damals wo in Scherberg gelebt und gewohnt hat.

Doch auch wenn man noch viel mehr Spannendes über die Frühgeschichte Scherbergs in den letzten tausend Jahren und den Wandel Scherbergs während dieser Zeit berichten könnte, wollen wir hier und jetzt nur einen Blick auf die Zeit werfen, in der nach den furchtbaren Ereignissen des Zweiten Weltkrieges mit mehr als 60 Millionen Toten wieder das Leben begann und die Scherberger Maijungen im Jahre 1947, also vor 75 Jahren, mit Franz Offermann ihren ersten Maikönig nach dem Krieg wählten und mit Maria Koch die erste Maikönigin ausgerufen wurde.

Als die Scherberger Maijungen im Jahr 1947 das uralte Brauchtum des Jungenspiels wieder zum Leben erwecken, bestand Scherberg im Gegensatz zu heute nur aus sehr wenigen Straßen, nämlich im Wesentlichen der Scherberger Straße (in der Scholl – Karte um 1760 noch mit „Grünen Weeg“ bezeichnet), der Südstraße (früher Dorfstraße geheißen), der Paulinenstraße (die ihren Namen ihrer Ausrichtung zum
nahegelegenen „Paulinenwäldchen“ verdankt, das wiederum seinen Namen der Schwester Napoleons verdankt) und der „Chaussee“ , also der Aachener Straße.

Der gesamte dazwischenliegende Bereich, das sogenannte „Scherberger Feld“, war mit Ausnahme weniger einzelner Häuser und der in den Jahren 1925/1926 erbauten Pfarrkirche Sankt Marien noch vollkommen unbebaut. Erst mit dem Bau des neuen Schulgebäudes an der Kaisersruher Straße im Jahre 1951 (das ursprüngliche, im Jahr 1884 errichtete Schulgebäude an der Scherberger Straße war nach einem Artillerietreffer am 24. Oktober 1944 vollständig ausgebrannt) und der in den Jahren 1952/1953 erbauten Bergarbeitersiedlung durch die Rheinische Kleinsiedlungsgesellschaft erhielt Scherberg sein den Ortsteil bis heute prägendes Bild. Dann dauerte es mehr als 30 Jahre, bis sich Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre Scherberg städtebaulich noch einmal weiterentwickelte, als der Rat der Stadt Würselen Neubaugebiete in dem Bereich hinter der Herg und im Verlauf der Schloßstraße erschloss. Vollendet wurde die städtebauliche Entwicklung vorläufig mit zwei weiteren Neubaugebieten, nämlich der Erschließung des Geländes der ehemaligen Gärtnerei Kuckertz (Maria-Merian-Weg) und der Bebauung des Geländes der ehemaligen Gärtnerei Bauendahl, gelegen zwischen der Aachener Straße und der unteren Paulinenstraße (Alte Gärtnerei).

Aber nicht nur städtebaulich hat Scherberg sein Gesicht in den vergangenen 75 Jahren stark verändert. Ist das am Rande des Naherholungsgebiets Wurmtal gelegene Scherberg heute ein gesuchtes (und damit auch entsprechend teures) Wohnquartier, zeichnete sich das Scherberg der Nachkriegsjahre bis weit in die 80er Jahre hinein durch eine äußerst große Vielfalt an Lebensmittelgeschäften, Bäckereien, Metzgereien, Textilgeschäften, Schuhgeschäften, Geschäften für Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte, Futtermittelverkauf, Bauunternehmen bis hin zu Fahrschulen, Friseuren und vieles andere mehr aus. Diesem Kapitel der Scherberger Geschichte sind in der Festschrift des Scherberg Jungenspiels aus Anlass des 50-jährigen Bestehens im Jahr 1997 – Scherberg gestern heute – mehr als 70 Seiten gewidmetund es ist bis heute ein großes Vergnügen, die von Heinz Josef Küppers verfasste Festschrift zu lesen und sich noch einmal das vielfältige geschäftliche Leben Scherbergs in dieser Zeit in Erinnerung zu rufen.

Neben vielen Ladenlokalen prägten damals vor allem auch eine ganze Reihe von Gaststätten das Scherberger Straßenbild. Allein die Paulinenstraße säumten mit der Gastwirtschaft Paulinenhof (später „Ranch“), der Gastwirtschaft „Zum Halfter“, der Gaststätte Leo Mertens und der Gaststätte Winden (später „Alt Scherberg“) nicht weniger als 4 Gaststätten, Treffpunkte für Jung und Alt. Waren es in der Gaststätte Mertens mit ihren hochmodernen Bahnen die Kegelvereine aus ganz Würselen, die dort ihrem Hobby frönten, war die Gaststätte Winden die gute Stube der Scherberger Ortsvereine. Seit Beginn der 1950er Jahre Vereinslokal der St. Hubertus Schützenbruderschaft war die Gaststätte Winden mit dem danebengelegenen Schießstand Austragungsort vieler volksfestähnlichen Schützenfeste. Gleichzeitig war die Gaststätte mit dem dazugehörigen Platz an der Paulinenstraße aber auch von Anbeginn an Quartier der Scherberger Maijungen und bis Mitte der 1970er Jahre Standort des Festzeltes des Scherberger Königsspiels.

Doch nicht nur für die Maijungen und die Schützen war die Gaststätte Winden wie eine zweite Heimat. Auch der Kirchenchor Sankt Marien, der TV Scherberg und der Taubenverein Fortuna führten dort ihre Mitgliederversammlungen durch und feierten viele Feste in dem kleinen Saal des Lokals, an die sich die älteren Scherbergerinnen und Scherberger bis zum heutigen Tag noch gerne zurück erinnern.

Die Gaststätte Winden bzw. seit dem Jahr 1981 „Alt-Scherberg“ war über Jahrzehnte hinaus die zentrale Begegnungsstätte nicht nur für die Mitglieder sämtlicher Ortsvereine, sondern sie war ein wichtiger Treffpunkt für den gesamten Ort. Mit der Schließung des Lokals und dem Abbruch des alten Gaststättengebäudes im Jahr 2012 hat Scherberg nicht nur einen wichtigen Teil seiner Geschichte, sondern auch ein Stück seines Herzens verloren. Nachdem in den vergangenen 2 Jahrzehnten mit Ausnahme der Gaststätte „Zum Türmchen“ (die aber genau genommen schon nicht mehr zu Scherberg gehört) alle Gaststätten in Scherberg geschlossen wurden und mit der Erweiterung der Kindertagesstätte Sankt Marien auch die Räumlichkeiten des Jugendheims für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich waren, gingen damit schließlich auch sämtliche Möglichkeiten für die Scherberger, sich außerhalb der eigenen vier Wände zu treffen und zu feiern, verloren. Erst in den letzten Jahren entstand mit dem Bau des Vereinsheims der Sankt Hubertus Schützen auf der Schützenwiese an der Paulinenstraße so etwas
wie ein neuer Begegnungsort, der nicht nur von den Schützen selbst, sondern auch vom Scherberger Jungenspiel und vielen anderen genutzt wird. Um dem geselligen und gesellschaftlichen Leben in Scherberg wieder Platz zu verschaffen, planen die Schützen derzeit den Bau eines multifunktionalen Gebäudes, in dem die Schützen einerseits ihrem Sport nachgehen können, das aber andererseits auch Platz für Versammlungen, Seniorentreffen, Vorträge o. ä. beinhalten soll. Ob es gelingt, das Projekt umzusetzen, hängt weitestgehend davon ab, ob das Projekt durch die Stadt Würselen und das Land Nordrhein-Westfalen gefördert wird.

Die Schließung sämtlicher Gaststätten und das Fehlen jeglicher Versammlungsräume, aber auch ein stark verändertes Konsumverhalten hat in den letzten 3 Jahrzehnten leider auch dazu geführt, dass das früher sehr ausgeprägte Vereinsleben in Scherberg manchen Verlust hinnehmen musste. So sind der einstmals mehr als 80 Mitglieder umfassende Kirchenchor der Pfarre Sankt Marien als auch der Taubenverein Fortuna nur noch Geschichte. Was waren das noch für Zeiten, als, wenn man an einem Sonntagmorgen zum Frühschoppen in die Gaststätte Winden ging, man dort kaum Platz fand, weil sich in der Gaststätte und im Saal die Taubenfreunde mit ihren Stechuhren und die Freunde des TV Scherberg drängten und im Saal auf der 1. Etage der Gaststätte die Männer des Kirchenchors nach der heiligen Messe ihre sonntägliche Probe abhielten.

Nachdem aber der TV Scherberg schon vor vielen Jahren sein Vereinsleben aus Scherberg in andere Örtlichkeiten verlegt und dadurch viel von seinem einstigen Status als einem der größten Ortvereine verloren hat, sind neben dem Kaninchenzuchtverein nur noch das Scherberger Jungenspiel und die Schützen als Ortsvereine verblieben. Gerade die beiden Letzteren erfreuen sich jedoch glücklicherweise seit vielen Jahren einer großen Beliebtheit mit der Folge, dass sich das Scherberger Jungenspiel wohl mit Fug und Recht zur Zeit als eines der stärksten und erfolgreichsten Jungenspiele der Stadt Würselen bezeichnen kann und die Scherberger Schützen mit ihren derzeit 75 aktiven Mitgliedern zum mitgliedermäßig größten Schützenverein der Stadt Würselen avanciert ist.

Ging mit der Schließung der Gaststätte Winden bzw. „Alt Scherberg“ ein Teil des Herzens Scherberg verloren, war die Entwidmung der Pfarrkirche Sankt Marien im Jahre 2017 ein weiterer tiefer Einschnitt in das Seelenleben vieler Scherbergerinnen und Scherberger. Hatte die Pfarrkirche “ ohne Turm „, wie es im alten Scherberger Heimatlied heißt, den Krieg noch mit knapper Not relativ heil überstanden (ein neben der Kirche während der Straßenkämpfe in Scherberg im Herbst 1944 in Brand geschlossener Panzer hatte die Kirche ebenfalls beinahe in Brand gesetzt) und erstrahlte die Kirche ab den 1960er Jahren wieder in neuem Glanz, führten die Veränderungen im Bistum und die sinkende Zahl der Kirchenbesucher dazu, dass nicht nur eine religiöse Begegnungsstätte, in der viele Scherberger getauft wurden, ihre Erstkommunion erhielten und geheiratet haben, sondern auch eine bedeutende kulturelle Begegnungsstätte für immer ihre Pforten schließen musste und die Kirche entwidmet wurde. Durch die Umwidmung der Kirche in ein Columbarium, das sicherlich für viele Scherberger zukünftig letzter Ruheort sein wird, ist es allerdings glücklicherweise gelungen, der Pfarrkirche Sankt Marien das Schicksal der vor wenigen Jahren abgerissenen neuapostolischen Kirche an der Scherberger Straße, die einem Wohnungsneubau weichen musste, zu ersparen.

Vieles gäbe es noch darüber zu berichten, wie sich das Gesicht Scherbergs seit 1947 bis heute gewandelt hat. Doch bei allen Veränderungen, bei all dem, was in dieser Zeit verlorengegangen oder neu hinzugekommen ist, eines hat sich in all diesen Jahren nicht verändert: Die ungebrochene Liebe der Scherberginnen und Scherberger zu ihrer Heimat und die unverbrüchliche Verbundenheit zu „ihrem Jungenspiel“.

Wenn es gelingt, das zu bewahren, dann braucht einem um die Zukunft Scherbergs und auch um die Zukunft des Scherberger Jungenspiels nicht bange zu sein.

In diesem Sinne gratulieren wir dem Scherberger Jungenspiel zum 75-jährigen Bestehen nach dem Kriege verbunden mit der Hoffnung, dass die jahrhundertealte Tradition des Jungenspiels als lebendiger Ausdruck von Lebensfreude noch viele Generationen erfreuen möge und Scherberg das bleibt, was es seit je her für alle Scherbergerinnen und Scherberger war und ist – Heimat!

Karl-Jürgen Schmitz